Verkehrte Biomimetik —
ist der Mensch der bessere Schöpfer?
Katharina Ritschi zeigt in ihrer Kunst einen neuen Blick auf den Zusammenhang zwischen Mensch, Technik und Natur. Was ergibt sich aber, wenn man die Perspektive der Biomimetik verkehrt? Kann die Natur - im Falle Katharina Ritschis speziell der Mensch und seine Organe - mittels technischer und elektronischer Bauteile abgebildet werden? Katharina Ritschi stellt mit ihren Werken die Frage, ob der Mensch als vermeintlicher Gipfel der Evolution tatsächlich das Zeug dazu hätte, sich selbst durch seine teilweise zarten, teilweise brachialen Artefakte nachzubilden und zum selbsternannten Schöpfer zu erheben.

Die Frage bleibt nicht unbeantwortet, wenn man genau hinschaut und den Fineliner-Linien durch die detailreichen großen Organwelten der technischen Apparate folgt. Vielmehr noch werden verschiedene Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel, wo die Begegnung mit erhabenen Strukturen tatsächlich stattfinden kann: Beim Blick auf die Natur in medizinische Fachbüchern oder beim Blick in Schaltschränke und auf S355-Doppel-T-Träger? Stecken Leben und Bewusstsein in einem technischen Apparat oder sind Mensch und Natur doch etwas anderes als eine Maschine, die nach Gusto repariert und angepasst werden kann? Dass die Künstlerin sich dabei der Ästhetik der technischen Ze ichnungen bedient und sich quasi Farben verweigert, verstärkt die Intensität der aufgeworfenen Fragen.

Katharina Ritschis Kunst stellt einen stillen Kommentar zum Anthropozän-Zeitalter dar, in dem der Mensch neben der Natur auch den eigenen Körper aus ästhetischen oder leistungsbedingten Gründen technokratisiert, ausbessert, vermisst und umgestaltet. Kann verlorenes Körpergefühl wirklich durch Auslesen, Auswerten und Optimieren von sogenannter Health Data wiedergefunden oder gar verbessert werden? Oder ganz konkret: Wo liegt noch der Unterschied zwischen einer genauen Trainingssteuerung und dem Einstellen einer Einspritzpumpe?

Auch die Evolution scheint der schöpfende Mensch besiegt zu haben, wenn künstliche Befruchtung und Milchpulver, wenn Herzschrittmacher und künstliche Intelligenz, wenn Genscheren und Fotosensoren natürliche Prozesse ersetzen können und der Mensch Leben verlängert und sogar zum Cyborg wird. Der disruptive Umgang des Menschen mit seiner Umwelt führt ihm selbst vor Augen, dass er sich evolutionär anpassen muss – ob er der Evolution überlegen ist, muss er eventuell bald zeigen. Damit zeigt sich Kathrina Ritschis Kunst auch als Fingerzeig und Denkanstoß über die Möglichkeiten und Grenzen der Technokratie.




Anatomische Reflexionen anders
Hubert Portz, 2021
Die Fineliner-Zeichnungen von Katharina Ritschi umfassen ihr Schaffen aus den Jahren  2011—2021. Wir blicken auf eine eigenwillige Melange aus Technik und Poesie. Und das in einer Kultur, in der der Gedanke vorherrscht, dass Technik und Poesie zwei sich widersprechende Einheiten sind. Aber kann die Materialisierung des Gedankens in technischen Objektzeichnungen nicht auch ein schöpferischer Prozess sein, der durch Poesie besticht? 
Wie kommen die faszinierenden Organe mit dem eigenwilligen Inneren von Katharina Ritschi zur Welt?

Das sind keine spontanen Geburten, vielmehr zeitintensive, langwierige. Intensive Vor- arbeit steckt dahinter. Immer wieder schoben sich Studien und Auseinandersetzungen der komplexen menschlichen Anatomie ein.

Wir erfassen, wie konzentriert ihr Kopf die Hand führt und diese den Stift. Und mit diesem setzt sie klare, nicht korrigierbare Linien. Auf den ersten Blick muten ihre Arbeiten an wie realistische, technischer Objekte. Ist doch die äußere Form klar begrenzt und entspricht der der Organe. Übergroß, imposant stehen die sezierten Organe vor uns. Wundersam entfremdet, verdichtet und neu komponiert. Wir entdecken freigelegte, detailreiche, fantastische innere Bildwelten komplexer menschlicher Organe. Das sind anatomische Reflexionen mit einem ganz eigenem, eigenwilligem Kick.

Katharina Ritschi geht es primär nicht um die realistische Darstellung der Organe, dafür ließe sich ein Anatomiebuch zur Hand nehmen. Sie erkundet die Grammatik ihre Organe. Anders gesagt, sie sucht auf ihre Weise die Berührung und den Kontakt mit intimen verborgenen Welten. Ihre Arbeiten sind Annäherungen, Aneignungen von Materiellem und Immateriellem zugleich. Es sind gefühlvolle Kompositionen, in denen Rationalität und Irrationalität ineinandergreifen.

In der Ausstellung "early birds", 2013, formuliert Anna Gabriela Henné ihr Schaffen wie folgt: Katharina Ritschi hauche "den kalten, künstlichen Gebilden Seele ein und verleihe ihnen handgemachte Lebendigkeit".

Ja, es sind handgefertigte und mit viel Herzblut und Aufwand kreierte Arbeiten. Eine eigentümliche Welt ohne erkennbare Logik. So perfekt die Welt darin auch erscheint, funktionieren kann sie nicht. Erst recht nicht als Ganzes. Es ergibt sich ein Zusammenhängendes, aber kein Zusammenstimmendes. Will heißen, keine erklärbare, verständliche, funktionierende Einheit, vielmehr eine Illusion von Perfektion und Funktionstüchtigkeit. In gewisser Weise surrealistisch, aber ebenso anarchistisch, nämlich dezent gegen unsere allzu logisch-rationale Perspektive gewandt. Es sind technisch verspielte, virtuose, offene Baupläne. Ohne Anfang, ohne Ende, sperrangelweit offen, ganz so wie ihr Werk os, 2012, für allerlei Staunen und Raunen, Sinnen und Besinnen. Kaum zu glauben! Wir können förmlich das Pulsieren, Rattern, Klacken, Klicken, Surren und Schnurren der Rädchen, all die Geräusche der Maschinerie mit den Augen hören und fühlen. Das sind Rhythmen unserer Zeit. Für den einen sind es notwendige Hintergrundgeräusche, für einen anderen Störgeräusche.

Wir wissen um die Aufgabe und Funktion unserer Organe. Aber wie sie genau ticken, wie wir ticken und was das sonst noch so alles mitspielt, das entzieht sich in gewisser Weise unserer Erkenntnis.

"Wissen wollen wer man ist und kläglich daran scheitern...", heißt ein Gedicht der 2002 geborenen Lyrikerin Ronja Lobner. Ja, es gibt viele Orte in uns, die sich der Logik, der Rationalität entziehen. Unser Gehirn zum Beispiel oder das, was wir Unterbewusstsein nennen.

Und wie steht es um das, was wir Seele und Herz nennen. Zwischen Neurodeterminismus und "ich bin mein Gehirn" liegen Welten. In cor, 2019, führt ein Gespräch mit ihrem Herzen. Auch wir wissen, unser Herz lässt sich nicht allein von Beweisen, Fakten und Vernunft belehren, es hat, wie schon Blaise Pascal in La coeur et ses raisons sagte, seine eigenen Gründe. Es fängt Feuer, setzt zuweilen den Verstand und die Vernunft kalt. Es schert sich nicht um Rationalität, hat seine eigene Logik. Seinen eigenen Sinn. Der ist eingebunden in einen lebendigen, privaten Körper in einer eigenen sozialen und kulturellen Welt.

Katharina Ritschis anatomische Reflexionen verführen zur innigen Betrachtung unter die Haut. Sie berühren. Auch wenn ein Jeder sie auf seine Art beäugt und liest. Es gibt viel Gemeinsames.




Die Logik des Herzens —
Katharina Ritschis anatomische Reflexionen
Margherita Agostini, 2020



Also kann ich annehmen, Madame, dass ich anfing zu sterben,
als ich begann, Sie zu lieben,
weil der Tod eine Trennung von Geist und Körper ist
und weil ich von dem Augenblick an, als ich Sie sah,
meinen Verstand verlor.
Cyrano de Bergerac

Ein Kunstwerk zu betrachten bedeutet immer, sich an andere zu erinnern, und sich von den erweckten Assoziationen schmeicheln zu lassen.

Das sich Verlieren des Auges in den unzähligen Mäandern, die Katharina Ritschi mit zeichnerischer Virtuosität in ihr Herz eingemeißelt hat, läßt uns wie Charlot fühlen, als er von der Fabrikmaschine aufgesaugt wird, deren mechanisches Pulsieren den Lebensrhythmus “Moderner Zeiten” bestimmt. Glücklich gefangen in einem surrealen Raum, wo technische Präzision im Dienste dadaistischer Verwirrung optimal eingesetzt wird, möchten wir auch anhand zweier Schraubenschlüssel weiter an dem Werk arbeiten, um unseren eigenen Weg im Labyrinth zu eröffnen, wobei die unmöglich auffindbare Richtung nichts anderes darstellt als die höchst unbefriedigende Suche nach einem Sinn.

Die verspielte Obsession, mit der die Künstlerin uns durch ihre Vorliebe zum kleinsten Detail verführt, scheint aber auf einmal Frage und Antwort zur Bedeutung des Bildes zu sein. Die Irrwege des Herzen sind unendlich, die von den Emotionen gespielten Töne höchst unterschiedlich, sie verkörpern trotzdem alle zusammen eine eigene Vernunft, die genau weiß, wo sie hingehört, weil die Form des Organs, trotz klaustrophobischer Fülle, nicht zersprengt wird. Es gibt einen Ort in uns, der sich einer rationalen Interpretation entzieht und dessen Logik eine einzige Sprache zulässt: die Musik.




Early Birds
Anna Gabriela Henné, 2013
Katharina Ritschi gewährt uns einen Einblick in ihre fantastischen Bildwelten. Technische Bauteile fügen sich zusammen, um menschliche Organe nachzubilden.

Schon immer ließ Ritschis Forscherdrang sie das Innenleben von Maschinen untersuchen und dokumentieren. Aus der spielerischen Neugier des Kindes, das die Werkstatt seines Vaters, eines Fernsehtechnikers, zu seinem Spielplatz erkoren hatte, entwickelte sich eine Künstlerin, die nun zur Erfinderin wird.

Ein menschliches Organ steht in seiner Komplexität keinem noch so raffinierten technischen Gerät nach. Ritschi überträgt ihr technisches Wissen um den Aufbau von Maschinen auf den menschlichen Körper. Sie interpretiert die einzelnen Organe, zum Beispiel Auge oder Nase, und deren Aufbau neu, indem sie Analogien aus der Technik und Elektronik sucht und davon hochdetaillierte Konstruktionszeichnungen anfertigt. Filigrane, empfindliche Muskeln, Venen, Arterien werden zu robusten, komplexen Konglomeraten aus Kabelsträngen, Kanülen, Röhren, Kolben, Trommeln, Metallskeletten. Biomechanische Welten entstehen, anatomisch präzise recherchiert, technisch plausibel nachgeahmt und in Szene gesetzt. Das Problem der tatsächlichen, realen Umsetzbarkeit einer solchen Konstruktion steht dabei an zweiter Stelle.

Die Frage, die Katharina Ritschi stellt, ist immer noch verwurzelt in der Neugier und dem Spieltrieb des Kindes: „Was wäre, wenn... ?“ Die Konsequenz der Zeichnungen lässt den Betrachter diesem Gedankengang bereitwillig folgen, lässt ihn vergessen, dass reale technische Geräte und Maschinen in ihrer Form höchst selten ihrem organischen Vorbild gleichen.

Interessant auch, dass die Künstlerin bewusst das nackte, ungeschützte Innenleben dieser „Technorgane“ präsentiert. Keine Haut verbirgt sie und man vermag sich fast vorzustellen, wie die einzelnen Elemente sich bewegen und ihre Aufgaben in mechanischem Rhythmus erfüllen. Man folgt dem Labyrinth der komplexen Maschine, fast hört man das elektronische Summen und stakkatoartige Klicken, das den Arbeitsprozess untermalt.

Ebenso konsequent und mutig auch der Arbeitsprozess von Katharina Ritschi: Die Linie, unmittelbar und ohne Vorzeichnung mit einem Fineliner aufs Papier gebracht, ist nicht mehr zu ändern, weder mit Radiergummi noch Tintenlöscher. Unmöglich, sich der technischen Vorteile zu bedienen, die heute bei der Erstellung einer technischen Zeichnung mit Hilfe eines CAD-Programms möglich wären.

Durch ihre persönliche Art der Darstellung und Interpretation haucht Ritschi den kalten, künstlichen Gebilden Seele ein, verleiht ihnen pinocchioartige, handgemachte Lebendigkeit.

Die bloßen Linien und ihre Eigenschaft, Gegenstände auf ihre wesentliche Kontur zu reduzieren, bildet das wichtigste Element der Zeichnungen.